Geburtstagsbrief an Hieronymus | 11.05.2020

11. Mai 2020

Hochverehrter, geschätzter Herr von Münchhausen,

erlauben Sie mir, mich mit einer eigenartigen Frage an Sie zu wenden? Verzeihen Sie, ich möchte dabei nicht indiskret sein, aber bestimmte Umstände machen es mir zur Aufgabe, in diesem Punkt Klarheit zu schaffen. Wann sind Sie eigentlich wirklich gestorben – und wann geboren? 

Es wird zur Zeit allerorten behauptet, Sie würden heute einen runden Geburtstag feiern, und zwar den dreihundertsten. Dass Sie am 11. Mai normalerweise Geburtstag haben, ist unbestritten. Aber dass es diesmal der dreihundertste sein soll – das kann nicht sein! Dass Zweifel an dieser Behauptung aufgekommen sind, ist einem Votum in einem Seminar der Bodenwerder Akademie der Wahrheit zu verdanken. Ein Seminarteilnehmer, den niemand der Anwesenden kannte, brachte seine Skepsis folgendermassen zum Ausdruck. Er war in Band 33 Ihrer wunderbaren Memoiren zufälligerweise auf folgende Passage gestossen, die er sich aufgeschrieben hatte:

«Als ich starb und zu Grabe getragen wurde, fiel mir unterwegs ein, dass es doch schade sei, wenn so viel Geist und Genie gleichfalls mit in die Gruft gesenkt werden sollten. Kaum hatte ich diesen Gedanken gefasst, als ich den Sargdeckel in die Höhe schnellte und meinen Geist herausspringen liess, während meine irdische Hülle der Erde übergeben wurde.» 

Wer hat nun den dreihundersten Geburtstag, der Geist oder die Hülle? Ich war immer der Meinung, Sie seien im Jahr 1797 verstorben. Das Zitat aus Band 33 Ihrer Autobiografie stammt aus dem Jahr 1833. Und nun die Überraschung: Nur sechs Jahre später gab es einen regelrechte Münchhausenboom – im August 1839 ist z.B. ein Buch erschienen, das eine seriöse Charakterstudie über Sie enthielt, basierend zu hundert Prozent auf Tatsachen. Titel des ersten Kapitels: «Münchhausens Auferstehung». Als ich das gelesen hatte, war ich zunächst irritiert, vergass dann aber dieses unerwartete Ereignis wieder – bis bei uns (d.h. in Sankt Petersburg) in fünf Kinos zugleich der Dokumentarfilm «Der ewige Münchhausen» anlief. Als ich dann im Zimmer meiner zehnjährigen Tochter unter dem Kopfkissen ein Heftchen der Comic-Serie «Der unsterbliche Schalk – Neues  von Münchhausen» fand, – ein   Druck aus der Pionierzeit der Comicstrips aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, auf dessen Rückseite Ihr Autogramm ausstrahlte – da wollte ich nun wirklich von Ihnen persönlich wissen, was es mit diesem Zirkus von Leben und Tod auf sich hat, ob Sie bei den Wiedergeburten tatsächlich drei- oder viermal aus dem Mutterleib gekrochen sind, und wie Ihre Seele damit umgeht, dass Sie angeblich ewig existieren und andererseits mehrere Tode über sich ergehen lassen mussten.

Ich würde Sie gerne persönlich kennenlernen. Falls wir uns einmal treffen können, bringe ich ein Foto von Ihnen mit, das ein Freund von mir heimlich aufgenommen hat: Es hält just die Zehntelssekunde fest, in der Sie von einer matschverschmierten hinteren Pferdehälfte herabstürzen – ich würde sagen: keine Chance zum Überleben!

Bitte beantworten Sie mir nur eine Frage: Gibt es in der Gegend, in der Sie sich gewöhnlich aufhalten, so etwas wie die Zeit? 

Freundliche Grüsse Ein Münchhausologe
zu erreichen über das Kontaktformular auf 
ww.münchhausen.ch